Die Rationalität in der Notwehr: Juristische Schlüssel und der Fall Torrejón

June 25, 2025

Artikel 20.4 des spanischen Strafgesetzbuches (StGB) regelt die Notwehr und setzt drei kumulative Voraussetzungen voraus: rechtswidriger Angriff, vernünftige Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels sowie Fehlen einer ausreichenden Provokation. Die Rechtsprechung verlangt eine Rationalität des Verteidigungsmittels und schließt die Notwehr aus, wenn ein Exzess in der Gewaltanwendung oder in der Dauer der Reaktion vorliegt. Im Fall Torrejón tötete ein außer Dienst befindlicher Polizist einen bereits überwältigten Dieb durch Erstickung. Das Verhalten war übermäßig und nicht gerechtfertigt, sodass die Voraussetzungen für eine Notwehr nicht erfüllt sind. Das spanische Strafrecht misst dem Leben einen höheren Wert bei als dem Eigentum und begrenzt daher die zulässige Verteidigungsgewalt.

Summary

Rechtsrahmen: Artikel 20.4 StGB und seine richterliche Auslegung

Gesetzestext und Struktur:

Artikel 20.4 StGB normiert den Rechtfertigungsgrund der Notwehr mit drei kumulativen Voraussetzungen:

  1. Rechtswidriger Angriff
  2. Vernünftige Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels
  3. Fehlen einer zurechenbaren Provokation

Die Strafrechtslehre hebt hervor, dass der Gesetzgeber bewusst auf den Begriff der „Verhältnismäßigkeit“ verzichtet, um den funktionalen Charakter des Verteidigungsmittels zu betonen – wobei eine gewisse Proportionalität dennoch in der Voraussetzung der Rationalität implizit enthalten ist.

Relevante Rechtsprechung zur vernünftigen Erforderlichkeit

  1. STS 466/2010: verlangt eine Korrelation zwischen der Intensität des Angriffs und des Verteidigungsmittels; das am wenigsten schädliche, aber wirksame Mittel ist zu wählen.
  2. STS 470/2005 und STS 932/2007: führen eine ex-ante-Betrachtung durch, bei der Bedingungen, Instrumente und Alternativen analysiert werden.
    • Sie unterscheiden zwischen extensivem Exzess (unbegründete Fortsetzung der Verteidigung nach Ende des Angriffs) und intensivem Exzess (Einsatz eines objektiv übermäßigen Mittels). Beide schließen die volle Notwehr aus.
  3. STS 127/2021: betont erneut, dass eine fortgesetzte Verteidigung nach Beendigung der Aggression weder eine vollständige noch eine unvollständige Rechtfertigung rechtfertigt.
  4. STS 711/2024: analysiert Fälle übermäßiger Verteidigung, insbesondere in Bezug auf Quantität, Intensität und die Übereinstimmung zwischen festgestellten Tatsachen und der Beurteilung der Rationalität des Mittels.

Strafrechtliche Lehre

Die Lehre versteht unter „vernünftiger Erforderlichkeit“ zwei Dimensionen:

  • Subjektive: der emotionale und verfolgungsbedingte Zustand des Verteidigers
  • Objektive: die fachlich-juristische Beurteilung der Geeignetheit und Angemessenheit des Mittels

Beide Aspekte sind ex ante zu bewerten, jedoch anhand objektiver Maßstäbe an die Rationalität des eingesetzten Mittels. Die Verteidigung muss dasjenige Mittel wählen, das den Angriff wirksam, aber mit geringstmöglicher Schädigung abwehrt.

Ein zentrales Problem der Lehre liegt in der Spannung zwischen einem absolutistischen Modell der Selbstverteidigung (fokussiert auf Instinkt und Eigentum) und der positiven Rechtsordnung, die Beschränkungen auferlegt, um höherwertige Rechtsgüter – insbesondere das Leben – zu schützen.

Juristische Anwendung und kritische Würdigung des Rationalitätsprinzips im Fall Torrejón

Im Fall des durch Strangulation verursachten Todes eines mutmaßlichen Diebs durch einen außer Dienst befindlichen Polizeibeamten in Torrejón de Ardoz lässt sich unter Anwendung des Artikels 20.4 StGB klar feststellen, dass eine Notwehr als Rechtfertigungsgrund ausscheidet. Zwar lag eine rechtswidrige Angriffshandlung vor (versuchter Diebstahl), jedoch ohne Gewalt oder unmittelbare Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit des Beamten oder Dritter. Dies erhöht die Anforderungen an die Rationalität des eingesetzten Mittels deutlich.

Die vom Beamten durchgeführte Würgetechnik, aufrechterhalten über einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Minuten, obwohl der Täter bereits überwältigt war, stellt gemäß der ständigen Rechtsprechung des Tribunal Supremo (STS 470/2005, STS 127/2021, STS 711/2024) sowohl einen intensiven (wegen des objektiv irrationalen Mittels) als auch einen extensiven Exzess (wegen der andauernden Handlung nach Wegfall der Gefahr) dar. Eine Rechtfertigung über Notwehr – selbst in ihrer unvollständigen Form – ist daher ausgeschlossen.

Der Alkoholisierungsgrad des Beamten ändert daran nichts. Auch bei emotionaler Belastung verlangt die Rechtsprechung, dass rationale und angemessene Mittel eingesetzt werden. Die unterlassene Hilfeleistung sowie die Ignoranz gegenüber Zeugenaussagen („Lass ihn, du bringst ihn um!“) deuten darauf hin, dass keine Verteidigungsabsicht mehr bestand, sondern eine vergeltende oder strafende Motivation, die mit dem rechtlichen Fundament des Artikels 20.4 unvereinbar ist.

Kritische Gegenüberstellung zweier Strafrechtsmodelle

Dieser Fall beleuchtet deutlich den Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Rechtfertigungsmodellen:

  • Das liberal-erweiterte Modell: erlaubt es dem Einzelnen, subjektiv über die Mittel der Selbstverteidigung zu entscheiden
  • Das garantistische und verfassungsorientierte Modell des spanischen Strafrechts: schreibt eine objektive Rationalitätsprüfung vor, verbietet die Verteidigung mit übermäßiger Gewalt und schützt vorrangig das Leben als höchstes Rechtsgut

Die spanische Rechtsordnung steht eindeutig auf Seiten des zweiten Modells. Die jüngste Rechtsprechung bestätigt, dass das menschliche Leben Vorrang genießt und nicht durch irrational gewählte Verteidigungsmittel geopfert werden darf. Weder der subjektive Wert des Eigentums noch die emotionale Wahrnehmung des Verteidigers können die vom Gesetz verlangte Rationalität außer Kraft setzen.

Die Notwehr stellt kein rechtsfreies Handlungsfeld dar, sondern unterliegt der juristischen Kontrolle und dient der Wahrung der Grundrechte – auch jener des Angreifers.

Schlussfolgerungen

Im Lichte der Tatsachen und der geltenden Rechtslage ist offenkundig, dass das Verhalten des Beamten im Fall Torrejóndas Kriterium der vernünftigen Erforderlichkeit des eingesetzten Mittels nicht erfüllt. Die Handlung vereint einen intensiven Exzess (wegen der tödlichen Natur des Mittels) mit einem extensiven Exzess (wegen der Fortführung der Verteidigung nach Wegfall der Gefahr) und schließt somit jede Form der Rechtfertigung aus.

Die Berufung auf Artikel 20.4 StGB ist daher unzulässig. Der Beamte sieht sich einem strafrechtlichen Vorwurf wegen Tötung ausgesetzt, dessen rechtliche Einordnung – als vorsätzlich (Eventualvorsatz) oder grob fahrlässig – von der weiteren Bewertung abhängt. Eine gerichtliche Entscheidung im Sinne der STS 711/2024 oder STS 127/2021 müsste folgern, dass die vom Gesetz geforderte Rationalität des Mittels vollständig entfällt.

Strafrechtlicher Erkenntniswert

Dieser Fall verdeutlicht beispielhaft die Rolle des Strafrechts als Instrument zur Regulierung privater Gewalt. Gegenüber primären Impulsen einer absoluten Selbstverteidigung setzt das Recht eine rationale Begrenzung der Reaktion und stellt den Schutz des Lebens über das Eigentum. Die Rationalität, nicht die Emotionalität, muss das Leitprinzip der Notwehr in einer Gesellschaft sein, die auf den Grundrechten und dem Prinzip der Menschlichkeit der Strafe beruht.

Jorge Agüero Lafora
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