Freispruch im Revisionsverfahren wegen Fehlens hinreichender Belastungsbeweise: verstärkter Schutz der Unschuldsvermutung
Das Urteil 172/2022 der Zweiten Strafkammer des spanischen Tribunal Supremo überprüft und hebt eine gegen einen Physiotherapeuten wegen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen verhängte Verurteilung auf. Zuvor war er sowohl in erster Instanz durch die Audiencia Provincial de Las Palmas als auch in der Berufungsinstanz durch das Tribunal Superior de Justicia de Canarias verurteilt worden. In beiden Instanzen wurde die erst Jahre nach den angeblichen Taten abgegebene Aussage des Opfers ohne weitere Beweismittel als ausreichend angesehen. Der Oberste Gerichtshof gab jedoch der von der Verteidigung eingelegten Revision statt, da die Verurteilung das Grundrecht auf die Unschuldsvermutung verletzte. Die einzige tragende Beweisgrundlage erfüllte nicht die von der Rechtsprechung aufgestellten Mindestanforderungen, um bei fehlender äußerer Bestätigung eine Verurteilung zu rechtfertigen.

Summary
Die Verurteilung in den Vorinstanzen: alleinige Aussage als Belastungsbeweis
Die Verurteilung beruhte auf einer Reihe angeblicher sexueller Übergriffe während Physiotherapiesitzungen im Jahr 2013, als das mutmaßliche Opfer 12 Jahre alt war. Eine sofortige Anzeige erfolgte nicht; es lagen auch keine zeitnahen Hinweise vor. Der Minderjährige berichtete erstmals fünf Jahre später, 2018, nach Erhalt einer Werbung für die Praxis des Angeklagten.
Die Verurteilung in erster Instanz stützte sich ausschließlich auf diese Aussage, die das Gericht als kohärent, spontan und glaubwürdig bewertete. Diese Würdigung wurde vom Tribunal Superior de Justicia de Canarias bestätigt. In beiden Urteilen wurde die Aussage des Minderjährigen als einziger Belastungsbeweis zugelassen, ohne dass ergänzende Überprüfungselemente oder weitere Bestätigungen verlangt wurden.
Die Verteidigung rügte jedoch im Wege der Revision eine Verletzung von Artikel 24 Abs. 2 der spanischen Verfassung (Constitución Española), der die Unschuldsvermutung gewährleistet, sowie einen Fehler in der Beweiswürdigung. Sie verlangte vom Obersten Gerichtshof eine Kontrolle der Angemessenheit und Rationalität des Überzeugungsprozesses.
Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur alleinigen Belastungsaussage: Grenzen und Anforderungen
Der Oberste Gerichtshof bekräftigt in diesem Urteil seine ständige Rechtsprechung, wonach die Aussage des Opfers grundsätzlich ein ausreichendes Belastungsindiz darstellen kann, jedoch nur unter drei Voraussetzungen:
- Fehlen subjektiver Unglaubwürdigkeit,
- Beständigkeit in der Belastungsaussage,
- Vorliegen objektiver Bestätigungen.
Diese Rechtsprechung ist in zahlreichen Entscheidungen (STS 684/2017, STS 21/2018, STS 438/2019) gefestigt und findet insbesondere in Fällen sexueller Handlungen ohne Zeugen strenge Anwendung, in denen allein die Aussage des mutmaßlichen Opfers der Einlassung des Angeklagten gegenübersteht.
Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof im Revisionsverfahren klargestellt, dass er die Rationalität der Beweiswürdigung zu kontrollieren hat, auch wenn er nicht selbst die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme erlebt hat. Die Prüfung der Tragfähigkeit einer alleinigen Aussage erschöpft sich nicht in der formalen Überprüfung, sondern umfasst die Frage, ob das Tatgericht die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses sachgerecht bewertet und ob periphere Stützpunkte vorhanden sind, die diese Glaubwürdigkeit untermauern.
Anwendung auf den konkreten Fall: Unzureichend bestätigte Aussage und begründete Zweifel
Bei Anwendung dieser Rechtsprechung stellt der Oberste Gerichtshof fest, dass das angefochtene Urteil über keinerlei objektive Bestätigung zur Stützung der Aussage des Minderjährigen verfügt. Mehrere Umstände begründen ernsthafte Zweifel an der Verlässlichkeit des Berichts:
- Die Anzeige erfolgte erst fünf Jahre nach den Ereignissen, ohne frühere Mitteilungen oder Verhaltensweisen, die auf ein anhaltendes Trauma hindeuten.
- Das mutmaßliche Opfer suchte den Physiotherapeuten auch nach den angeblichen Übergriffen weiterhin auf, ohne unangemessenes Verhalten zu erwähnen.
- Die Praxis bot keine Bedingungen, die die Begehung der Taten erleichtert hätten: Die Tür war nicht verschließbar und die Räume wurden von anderen Patienten und Angehörigen frequentiert.
- Andere minderjährige Patienten des Angeklagten berichteten weder von ähnlichen Vorfällen noch von Auffälligkeiten im Verhalten des Angeklagten.
- Der geschilderte Ablauf der Übergriffe passte nicht zur physischen Erscheinung des Physiotherapeuten, der sichtbare Merkmale hatte, die vom Opfer trotz des behaupteten intensiven Körperkontakts nicht erwähnt wurden.
Das Gericht erkennt an, dass die Aussage des Minderjährigen nicht unglaubwürdig ist, stellt jedoch klar, dass ihre bloße subjektive Plausibilität nicht ausreicht, um eine Verurteilung zu tragen. Wörtlich heißt es im Urteil: „Die Vernünftigkeit des Zweifels hindert die Feststellung der Schuld.“ Mit anderen Worten: Fehlt die Gewissheit und verbleibt lediglich eine plausible, aber unbestätigte Hypothese, so gebietet die Rechtsordnung den Freispruch.
Begründung des Freispruchs: Stärkung des Grundsatzes in dubio pro reo
Die Zweite Kammer betont, dass die Unschuldsvermutung nicht allein aufgrund der Möglichkeit der Wahrhaftigkeit der Opferaussage überwunden werden kann, wenn diese nicht durch andere Daten bestätigt wird. Sie bekräftigt, dass der Beweismaßstab im Strafverfahren die Gewissheit jenseits vernünftiger Zweifel verlangt und dass das Prinzip in dubio pro reo als Schutzmechanismus gegen Fehlurteile wirken muss.
Im vorliegenden Fall geht es nicht darum, dass der Oberste Gerichtshof dem Angeklagten größere Glaubwürdigkeit beimaß, sondern darum, dass die Anklage die Tat nicht mit der erforderlichen Intensität nachgewiesen hat. Der Unterschied ist wesentlich: Es ist nicht die Unschuld zu beweisen, sondern festzustellen, dass die Schuld nicht rechtmäßig nachgewiesen wurde.
Dementsprechend gibt der Oberste Gerichtshof der Revision statt, hebt das Urteil des Tribunal Superior de Justicia de Canarias auf und spricht den Angeklagten frei. Zugleich ordnet er die Rückgabe der Akten an und erklärt die Kosten für ex officio.
Schlussfolgerung
Das Urteil 172/2022 des Obersten Gerichtshofs stellt eine strenge und konsequente Anwendung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung und der Maßstäbe der Beweiswürdigung in Fällen dar, in denen die Aussage des Opfers die einzige Belastungsquelle ist. Das Urteil delegitimiert das Zeugnis als Beweismittel nicht, setzt jedoch klare rechtliche Grenzen für dessen Tragfähigkeit, insbesondere wenn objektive Bestätigungen fehlen und das Fehlerrisiko hoch ist.
Das Gericht erinnert daran, dass das Strafverfahren von der Logik des Garantismus geprägt ist: Bloße Verdachtsmomente oder subjektive Wahrnehmungen reichen nicht aus, um den verfassungsrechtlich geschützten Zustand der Unschuld zu beseitigen. Für eine Verurteilung ist Gewissheit erforderlich; fehlt diese, darf das Strafrecht nicht eingreifen.
Das Urteil diskreditiert die Aussage des Minderjährigen nicht, stellt jedoch fest, dass diese isoliert betrachtet die Beweisschwelle nicht überschreitet, die eine legitime Beschränkung der Grundrechte erlaubt.
Diese Entscheidung unterstreicht letztlich die Rolle der Revision als letztes Kontrollinstrument gegenüber Überdehnungen der Beweiswürdigung und bekräftigt, dass die Strafjustiz ihre legitimierenden Grundsätze nicht preisgeben darf – und zwar unabhängig davon, wie sensibel oder delikat das zu beurteilende Delikt ist.

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