Die Überprüfungsfunktion des Berufungsgerichts bei Verurteilungen: Analyse des Urteils STS 136/2022

August 6, 2025
Nachrichten

STS 136/2022 hebt den Freispruch eines Betreuers wegen sexuellen Missbrauchs auf, korrigiert Überprüfung persönlicher Beweise durch Berufung.

Summary

Das Urteil des spanischen Obersten Gerichtshofs Nr. 136/2022, erlassen von der Zweiten Kammer am 17. Februar, entscheidet über ein vom Ministerio Fiscal (Staatsanwaltschaft) eingelegtes Kassationsmittel gegen ein freisprechendes Urteil der Zivil- und Strafkammer des Obersten Gerichts von Kastilien und León. Diese hatte im Berufungsverfahren ein zuvor von der Provinzaudienz von Ávila gegen einen Freizeitbetreuer wegen sexuellen Missbrauchs verhängtes Urteil aufgehoben und stattdessen einen Freispruch ausgesprochen. Die Staatsanwaltschaft machte geltend, das Berufungsgericht habe seine Kompetenzen überschritten, indem es personenbezogene Beweise ohne Unmittelbarkeit neu bewertet habe.

Der Oberste Gerichtshof wies das Rechtsmittel jedoch zurück und tat dies mit einem Urteil von erheblicher dogmatischer Bedeutung, indem er bekräftigte, dass das strafrechtliche Berufungsverfahren bei Anfechtung eines Verurteilungsurteils vollständig devolutiv ist. Das Gericht ad quem darf nicht nur, sondern muss die Beweiswürdigung und die Tatsachenfeststellungen vollständig überprüfen, wenn dies zur Wahrung des Rechts des Verurteilten auf Unschuldsvermutung erforderlich ist.

Die strafrechtliche Berufung nach der Reform von 2015: doppelte Ausgestaltung und devolutiver Effekt

Einer der wesentlichen Beiträge dieses Urteils besteht darin, eine bereits seit der Reform der Strafprozessordnung im Jahr 2015 gefestigte Rechtsprechung zu präzisieren und zu festigen, nämlich die Existenz zweier klar unterschiedener Modelle strafrechtlicher Berufung, deren Reichweite sich nach dem Inhalt des angefochtenen Urteils richtet.

Wird ein freisprechendes Urteil angefochten, darf das Berufungsgericht die festgestellten Tatsachen nicht auf Grundlage einer neuen Würdigung von persönlichen Beweismitteln ohne Unmittelbarkeit abändern. In diesen Fällen beschränkt sich seine Funktion auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit, Nachvollziehbarkeit und Begründung des Freispruchs.

Anders verhält es sich bei Anfechtung eines Verurteilungsurteils, wie im vorliegenden Fall. Hier ist das Berufungsgericht befugt und verpflichtet, eine vollständige Überprüfung vorzunehmen, Beweismittel neu zu würdigen, die Tatsachenfeststellungen zu ändern und gegebenenfalls die Verurteilung aufzuheben.

Diese doppelte Ausgestaltung beruht auf einer verfassungskonformen Auslegung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und des Rechts auf ein Rechtsmittel (Art. 24 spanische Verfassung – CE) in Verbindung mit dem Recht auf die Unschuldsvermutung. Der Oberste Gerichtshof folgt hierbei der Linie des spanischen Verfassungsgerichts, insbesondere der in STC 184/2013 entwickelten Rechtsprechung, wonach die Berufung gegen ein Verurteilungsurteil eine echte zweite Instanz darstellt und nicht lediglich eine formale Kontrolle.

Das Urteil betont, dass das strafrechtliche Berufungsverfahren als novum iudicium wirkt, also als neues Verfahren, in dem das höhere Gericht die volle gerichtliche Zuständigkeit sowohl in tatsächlicher als auch rechtlicher Hinsicht übernehmen muss.

Zurückweisung der Einschränkungen aufgrund fehlender Unmittelbarkeit

Ein häufig vorgebrachtes Argument in der gerichtlichen Praxis lautet, das Berufungsgericht könne personenbezogene Beweise nicht neu würdigen, da es sie nicht unmittelbar wahrgenommen habe. Dies war auch eine zentrale Argumentationslinie der Staatsanwaltschaft im Kassationsverfahren: Das Oberste Gericht von Kastilien und León habe die Aussage des Minderjährigen und das anfängliche Geständnis des Angeklagten unmittelbar bewertet, ohne deren Aussagen selbst vernommen zu haben.

Der Oberste Gerichtshof weist dieses Argument entschieden zurück. Er stellt klar, dass Unmittelbarkeit ein Mittel zum Zugang zu Beweisinformationen darstellt, aber kein Kriterium ist, das die Beweiswürdigung des Ausgangsgerichts gegen Überprüfung abschirmt. Das Fehlen von Unmittelbarkeit hindert das Berufungsgericht nicht daran, seine Überprüfungsbefugnisse auszuüben.

Diese Feststellung ist im vorliegenden Fall besonders bedeutsam, da die Aussage des Minderjährigen als vorprozessuales Beweismittel durch eine audiovisuelle Aufnahme eingebracht wurde, wodurch sowohl das Ausgangsgericht als auch das Berufungsgericht denselben Zugang zum Beweisinhalte hatten.

In diesem Zusammenhang warnt das Urteil vor einer Auffassung der Unmittelbarkeit als kognitivem Privileg des Ausgangsrichters. Unmittelbarkeit verleiht der ursprünglichen Beweiswürdigung keinen absoluten Erkenntniswert und macht den erstinstanzlichen Richter nicht zum einzigen legitimen Interpreten des Beweises.

Gerade im Strafrecht, wo fundamentale Rechte wie die persönliche Freiheit auf dem Spiel stehen, ist es unerlässlich, dass die Überprüfung von Verurteilungen wirksam und real erfolgt – nicht bloß formal. Dies erfordert, dass dem Berufungsgericht die Möglichkeit eingeräumt wird, sich ein eigenes Urteil über die Beweismittel und die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu bilden, selbst bei fehlendem direkten Kontakt, sofern es über dieselben Bewertungsgrundlagen verfügt wie das untere Gericht.

Die Gültigkeit des Freispruchs in zweiter Instanz: Rationalität und begründeter Zweifel

Neben der Bestätigung der Legitimität der Beweisüberprüfung durch das Berufungsgericht befasst sich das Urteil auch mit der Rationalität der freisprechenden Entscheidung. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass der Freispruch irrational sei, den festgestellten Tatsachen widerspreche und auf einer unlogischen und willkürlichen Auslegung beruhe.

Der Oberste Gerichtshof hingegen bestätigt die Entscheidung des Berufungsgerichts, da sie auf einem juristisch fundierten, begründeten Zweifel an der sexuellen Absicht des Kontakts zwischen dem Angeklagten und dem Minderjährigen beruhe.

Das Urteil entwickelt hierbei eine tiefgehende Dogmatik zur Funktion der Unschuldsvermutung als Beweisregel. Es wird daran erinnert, dass für eine Verurteilung die Anklagehypothese über jeden vernünftigen Zweifel hinaus bewiesen sein muss. Für einen Freispruch hingegen bedarf es keines Nachweises der Unschuld, sondern lediglich der Feststellung, dass die Schuld nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen wurde.

Das Berufungsgericht stützte seinen Freispruch auf mehrere Umstände, die die Anklagehypothese entkräften: den Kontext der Handlung, das Fehlen eindeutiger Absicht, die spontane Entschuldigung des Angeklagten, Widersprüche in der Aussage des Minderjährigen sowie die glaubhafte Erklärung des Angeklagten.

Der Oberste Gerichtshof sieht diese Bewertung nicht nur als formell zulässig, sondern auch als umfassender als diejenige in erster Instanz, da sie Beweismittel berücksichtigt, die das Ausgangsgericht unbegründet außer Acht gelassen hatte. Der vom Berufungsgericht angeführte begründete Zweifel stellt somit keine willkürliche Erfindung dar, sondern eine rationale Schlussfolgerung aus der Gesamtwürdigung der Beweise, die gemäß dem verfassungsrechtlichen Standard einen Freispruch erforderlich macht.

Schlussfolgerung

Das Urteil STS 136/2022 stellt eine klare und fundierte Bestätigung des vollständig devolutiven Charakters der strafrechtlichen Berufung gegen Verurteilungen dar. In einer sorgfältig dargelegten dogmatischen Begründung erinnert die Strafkammer daran, dass das Berufungsrecht ein fundamentales Recht des Verurteilten darstellt und dessen Ausübung die Überprüfung nicht nur der Rechtsanwendung, sondern auch der Tatsachen und der Beweiswürdigung durch ein übergeordnetes Gericht erlaubt.

Die Berufung gegen ein Verurteilungsurteil befähigt das Gericht ad quem, umfassende Revisionsbefugnisse wahrzunehmen, ohne dass das Fehlen von Unmittelbarkeit diese Fähigkeit einschränkt.

Gegenüber restriktiven Positionen, die die Kontrolle auf eine rein rechtliche Ebene beschränken wollen, bekräftigt der Oberste Gerichtshof, dass das Strafverfahren eine umfassende und effektive Überprüfung erfordert – einschließlich der Möglichkeit, ein neues Urteil zu fällen, auch einen Freispruch, wenn das Berufungsgericht der Auffassung ist, dass die Verurteilung nicht dem durch die Unschuldsvermutung gebotenen Maß an Gewissheit entspricht.

Zudem hebt das Urteil hervor, dass der Freispruch nicht auf der Gewissheit der Unschuld, sondern auf der mangelnden Beweislast für die Schuld beruht. Wenn also plausible alternative Hypothesen bestehen, die nicht überzeugend widerlegt wurden, ist der einzig rechtsstaatlich zulässige Ausgang der Freispruch des Angeklagten.

Letztlich klärt dieses Urteil nicht nur den Umfang der strafrechtlichen Berufung nach der Verfahrensreform, sondern trägt auch zur Stärkung der Verteidigungsrechte und der gerichtlichen Kontrolle von Verurteilungen bei – im Einklang mit den verfassungs- und europarechtlichen Standards des Rechts auf ein wirksames Rechtsmittel.

Mit den Worten des Obersten Gerichtshofs: Das Berufungsgericht hat seine Kompetenzen nicht überschritten, sondern seine Überprüfungspflicht mit gebotener Sorgfalt erfüllt. Daher ist der ausgesprochene Freispruch aufrechtzuerhalten.

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