Jurisprudenzentwicklung und Schutz der Unschuldsvermutung durch das außerordentliche Wiederaufnahmeverfahren

Summary
Das Urteil 402/2025, erlassen von der Strafkammer des Obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo), befasst sich mit einer außerordentlichen Wiederaufnahmeklage gegen ein rechtskräftiges Urteil aus dem Jahr 1995, das mit einer Verurteilung wegen mehrfacher schwerer Straftaten – insbesondere Raub mit Gewaltanwendung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung – endete. Das Urteil ist nicht nur wegen seines Ergebnisses – der Aufhebung einer rechtskräftigen Verurteilung mit Freispruch – von rechtlicher Relevanz, sondern auch aufgrund der darin dokumentierten dogmatischen Weiterentwicklung der Wiederaufnahme als Instrument zum Schutz des Grundsatzes der Unschuldsvermutung und der materiellen Gerechtigkeit bei irreparablen Beweisfehlern. Die Kammer gibt der Klage statt, da neue Beweismittel vorliegen, die – auch wenn sie die Unschuld des Verurteilten nicht unmittelbar nachweisen – eine hinreichende begründete Zweifel an der Belastbarkeit der seinerzeit für die Verurteilung maßgeblichen Beweise begründen, wie in Art. 954 Abs. 1 Buchst. d der spanischen Strafprozessordnung (LECrim) vorgesehen.
Die außergewöhnliche Funktion der Wiederaufnahmeklage und ihre dogmatische Entwicklung
Die Wiederaufnahmeklage stellt ein außergewöhnliches und außerordentliches Rechtsmittel dar, das die Aufhebung rechtskräftiger Urteile erlaubt und somit im Einzelfall eine Durchbrechung der Rechtskraftwirkung (res iudicata) bedeutet. Ihr Zweck besteht nicht in der Überprüfung materieller Rechtsfehler, sondern in der Korrektur schwerwiegender tatsächlicher Irrtümer, die zu einer unrichtigen Verurteilung und damit zur Verletzung der realen Unschuld des Betroffenen geführt haben.
Traditionell setzte Art. 954.4 (heute Art. 954 Abs. 1 Buchst. d LECrim) das nachträgliche Auftreten neuer Tatsachen oder Beweismittel voraus, die die Unschuld des Verurteilten positiv belegen. Nach dieser strengen Auslegung musste das neue Material zwingend eindeutig und unwiderlegbar die Nichttäterschaft beweisen.
Die vorliegende Entscheidung bestätigt jedoch ausdrücklich die Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Tribunal Supremo – im Einklang mit der Linie des Verfassungsgerichts –, hin zu einer grundrechtsfreundlicheren Auslegung. Demnach ist nicht mehr zwingend die Unschuld nachzuweisen, sondern es genügt die Einführung eines erheblichen begründeten Zweifels, der das damalige Beweisgefüge entscheidend erschüttert.
Nach den Worten des Gerichts ist nunmehr maßgeblich, dass das neue Beweismittel oder die neu hervorgetretene Tatsache „die Unschuldsvermutung wiederherstellt, indem sie die Überzeugungskraft der damaligen belastenden Beweise wesentlich abschwächt“. Diese Entwicklung führt dazu, dass die Wiederaufnahme nicht mehr zwingend einen direkten Unschuldsbeweis voraussetzt, sondern ausreicht, wenn sich hypothetisch begründen lässt, dass der ursprüngliche Schuldspruch bei Kenntnis der neuen Elemente womöglich nicht ergangen wäre.
Der konkrete Fall: Wiederaufnahme der Verurteilung aus dem Jahr 1995
Das angegriffene Urteil wurde am 7. Januar 1995 von der Audiencia Provincial de Tarragona erlassen. Der Beschwerdeführer wurde wegen äußerst schwerwiegender Delikte – mehrfacher Vergewaltigung, Raub und Freiheitsberaubung – verurteilt, die sich zwischen dem 9. und 10. November 1991 ereigneten. Hauptbelastungsmittel war die Wahlgegenüberstellung, bei der ihn mehrere Opfer identifizierten.
Die Wiederaufnahmeklage stützt sich auf Tatsachen und Beweise, die zum damaligen Zeitpunkt nicht existierten oder nicht verfügbar waren und die Glaubwürdigkeit der damaligen Identifizierungen erheblich erschüttern.
Unter den neuen Elementen sind insbesondere hervorzuheben:
- Die Aufhebung früherer Verurteilungen in Parallelverfahren durch andere außerordentliche Rechtsmittel wegen ähnlicher Taten, bei denen das genetische Profil des Täters nicht mit dem des jetzigen Verurteilten übereinstimmte;
- Ein Bericht der Guardia Civil aus dem Jahr 1996, der das Auftreten einer Person dokumentiert, die dem Verurteilten sowohl physisch als auch phonetisch stark ähnelte und später Vergewaltigungen mit identischem Modus Operandi beging;
- Die Verwendung eines grauen Renault 5 mit gefälschten Kennzeichen, der bei mehreren Taten zum Einsatz kam, jedoch erst nach der Festnahme des Beschwerdeführers beschlagnahmt wurde – ohne Erklärung für dessen fortgesetzte Nutzung;
- Das Fehlen biologischer Spuren im überprüften Fall und das Ausbleiben von Identifizierungen durch andere Augenzeugen.
Zudem hebt das Gericht hervor, dass die Opfer den Angeklagten in Handschellen sahen, bevor es zur Wahlgegenüberstellung kam – was die Erinnerung und damit die Identifikation ungewollt beeinflusst haben könnte. Zusammen mit den zuvor aufgehobenen Verurteilungen aufgrund vergleichbarer Identifizierungsfehler wirft dies erhebliche Zweifel an der Belastbarkeit der damaligen Beweise auf.
Begründung der Entscheidung: Die begründete Zweifel als Grundlage der Wiederaufnahme
Der Oberste Gerichtshof stellt klar, dass – anders als in früheren Wiederaufnahmefällen – im vorliegenden Verfahren weder ein wissenschaftlicher Entlastungsbeweis (wie DNA-Spuren) noch ein ausdrücklicher Widerruf der Aussagen durch die Opfer vorliegt. Dennoch misst das Gericht der kumulativen Beweiskraft der neuen Elemente – die aufgehobenen Parallelverurteilungen, das identische Tatmuster, die physische Ähnlichkeit des alternativen Tatverdächtigen und die Unregelmäßigkeiten bei den Identifizierungen – erhebliches Gewicht bei.
In ihrer Gesamtschau begründen diese Umstände einen hinreichenden begründeten Zweifel an der Täterschaft des Verurteilten. Hätten sie dem erkennenden Gericht im ursprünglichen Verfahren bereits vorgelegen, so hätten sie das Urteil maßgeblich beeinflusst. Es geht, so das Gericht, nicht um den Nachweis der Unschuld, sondern darum, dass das ursprüngliche Beweisgefüge zur Überzeugungsbildung nicht mehr tragfähig ist.
Daher bejaht die Kammer das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 954 Abs. 1 Buchst. d LECrim und stellt fest, dass die Unschuldsvermutung erneut Geltung erlangt hat, da die Beweisgrundlage der ursprünglichen Verurteilung entscheidend erschüttert wurde.
Schlussfolgerung
Das Urteil des Obersten Gerichtshofs 402/2025 stellt einen weiteren Meilenstein in der fortschreitenden Öffnung der außerordentlichen Wiederaufnahmeklage im Sinne der materiellen Gerechtigkeit dar. Es bestätigt die Entwicklung der Rechtsprechung, die eine enge Auslegung des Art. 954 LECrim überwindet und die Wiederaufnahme bereits dann zulässt, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel einen begründeten Zweifel am ursprünglichen Schuldspruch aufkommen lassen.
Das Urteil betont, dass ein Strafverfahren nicht allein auf persönlichen Identifizierungen beruhen darf, die unter emotional belasteten Bedingungen und ohne hinreichende Sicherungen erfolgen – insbesondere dann nicht, wenn sich in vergleichbaren Verfahren mit ähnlicher Beweislage nachweislich Identitätsirrtümer durch wissenschaftliche Methoden bestätigt haben.
Der Oberste Gerichtshof verlangt in diesem Fall keinen vollen Unschuldsnachweis, sondern erkennt, dass die Strafrechtspflege nicht auf einer richterlichen Wahrheit beruhen kann, die durch neue gewichtige Tatsachen infrage gestellt wird. Das Urteil zeigt somit, dass die Unschuldsvermutung – auch wenn sie durch ein rechtskräftiges Urteil zunächst verdrängt wurde – wieder aufleben kann, wenn neue Erkenntnisse die Überzeugung von der Täterschaft erheblich erschüttern.
Infolgedessen wird der außerordentlichen Wiederaufnahmeklage stattgegeben, das rechtskräftige Urteil aus dem Jahr 1995 für nichtig erklärt und der Beschwerdeführer freigesprochen. Damit wird das Verfahren wieder in ein Gleichgewicht zurückgeführt, das der materiellen Gerechtigkeit entspricht.

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